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Beitrag vom 15.04.2005
Katze im Sack
Tatjana Zilg
Eindringliche Begegnungen innerhalb von 24 Stunden rütteln das Leben dreier ziellos durch die Nacht treibender Menschen wach. Die Kellnerin Doris löst sich aus verhängnisvoller, sexueller Verstrickung
Der draufgängerische Karl (Christoph Bach) steigt nach einem halb missglückten Versuch, per Anhalter fortzukommen, in den Zug. Spontan setzt er sich in das Abteil zu Doris (Jule Böwe), deren melancholischer Blick ihn magisch anzieht. Verlegen schauen sich die beiden an. Als Karl den Versuch macht, ein Gespräch zu beginnen, blitzt er gnadenlos ab. Aber das Interesse siegt in zunächst sehr ungewohnter Weise: Neugierig und hektisch werden die Taschen durchwühlt, als der jeweils andere zur Zugtoilette ist. Eine Schlumpffigur und ein im Kinderstil gemaltes Bild eines Gehängten berühren Karl so sehr, dass er in Leipzig spontan den Zug verlässt, um Doris zu folgen.
Was er und die Zuschauerin/der Zuschauer erfahren werden, geht tief unter die Haut: Denn die Beziehung, die Doris mit dem Sicherheitsfachmann Brockmann (Walter Kreye) führt, erinnert stark an sexuellen Missbrauch. Dessen voyeuristische Vorlieben bestimmen die Sexualität zwischen der zerbrechlich und robust zugleich wirkenden jungen Frau und dem viel älteren graumelierten, dicklichen Mann. Doch erfolgt keine Schuldzuweisung, indem Doris als reines Opfer dargestellt wird, sondern die Vielschichtigkeit und Komplexität der Beziehung kommt zur vollen Geltung. Auch Karl ist nicht der Retter, der sich sofort selbstlos um sie kümmert. In seiner eigenen Ambivalenz findet er sich nach einem Abend in der Karaoke-Bar, wo Doris kellnert, bei zwei Schwestern wieder. Die Abwesenheit der Eltern wird zum Spiel mit erwachenden sexuellen Wünschen genutzt.
Die AkteurInnen des Filmes werden im Laufe dieser einen Nacht mit ihren Grenzen, Begierden und Sehnsüchten schonungslos konfrontiert, wodurch es zur Befreiung kommt. Nachdem Doris, von Karl in Stich gelassen, in einer rasant kurzen Straßenaffäre mit einem jugoslawischen Macho zur Täterin wurde, kann sie sich endlich dazu überwinden, sich durch ein Telefonat von Brockmann zu trennen. Karl wird von den Schwestern vor die Türe gesetzt und treibt weiter durch die Nacht. Der Morgen führt die beiden jedoch zu einem neuen Ziel. Sie begegnen sich an dem Ort wieder, wo alles angefangen hat - im Zugabteil.
Der Film setzt sich meisterhaft auseinander mit der Verworrenheit des Menschen in seine Sehnsüchte und den verzweifelten Kampf, einen Weg für sich zu finden.
"Die Sehnsüchte bilden den dunkelsten und tiefsten Punkt der menschlichen Natur und vielleicht ist es sogar besser, gar nicht so viel über sie zu wissen, sie einfach da zu lassen wo sie sind. Denn mit den Sehnsüchten ist es wie mit der Katze im Sack: Manchmal sollte man den Sack lieber zu lassen - wenn man nur könnte", beschreibt Regisseur Florian Schwarz die Intention des Titels, der gleichzeitig seine Abschlussarbeit an der Filmakademie Baden-Württemberg Ludwigsburg war und 2004 den Deutsche Nachwuchspreis FIRST STEPS erhielt.
AVIVA-Tipp: Nach außen hart und skrupellos - innen zerbrechlich und ungemein verwundbar agieren die ProtagonistInnen im Labyrinth der Nacht. Trotz der tiefen Themen der Verlorenheit und der destruktiven Begierde hat der Film eine faszinierend positive Grundstimmung.
Regie: Florian Schwarz
Drehbuch: Michael Proehl
Darsteller: Jule Böwe, Christoph Bach, Walter Kreye, David Scheller, Andrea Cleven, Dirk Borchardt, Thorsten Michaelis, Laura Charlotte Syniawa
Deutschland 2004, 86 Minuten
Verleih: jetfilm
In der Perspektive des Deutschen Kino auf der Berlinale 2005.
Kinostart: 07.04.2005
www.katzeimsack.com